
Grosse Worte
Es gibt Worte, die die Welt verändern: Jesus’ Bergpredigt zum Beispiel („Ich aber sage euch, liebt eure Feinde“), Martin Luther Kings Washingtoner „Predigt“ („I still have a dream“) oder 1987 Ronald Reagans Aufforderung an Michail Gorbatschow in Berlin: „Mr. Gorbatschow, tear down this wall!“ Zweieinhalb Jahre später wurde die Mauer friedlich niedergerissen.
Inzwischen hat ein bisher eher verschwiegener Zirkel die Kraft der Worte entdeckt: die Zentralbanker. Es war im Sommer 2012: Die Europäische Währungsunion steckte in der Krise, man musste ihren Zusammenbruch befürchten, das Finanzsystem drohte zu kollabieren. Dann kam der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, und riss auf dem Höhepunkt der Euro-Krise das Ruder herum. Mit den Worten: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the Euro.“ Das sass. Das wirkte. Seither leiht die EZB den Banken fast unbegrenzt Geld praktisch zum Nulltarif. Die Anleger profitierten von steigenden Aktienkursen, die Staaten sparten bei den Zinszahlungen, das Wirtschaftswachstum machte die Arbeitsplätze der Bürger sicherer und das Vermögen der Hausbesitzer wuchs dank steigender Immobilienpreise.
Während der Leitzins für die Notenbanken noch vor 10 bis 20 Jahren das wichtigste Instrument war, brauchen sie heute zur Steuerung ihrer Geldpolitik die sogenannte Forward Guidance. Das heisst: Sie orientieren die Marktteilnehmer über ihre mittel- bis langfristigen Pläne und steuern so die Markterwartungen mittels transparenter Kommunikationspolitik bezüglich ihrer Prozesse, Überlegungen und Entscheidungen. „Für Notenbanken ist Kommunikation der neue Leitzins“ (NZZ, 17.11.2017). Manche, zum Beispiel die britische Nationalbank, nutzen dafür auch neue Kanäle: Über die „Financial Times“ könne man 300’000 Leser erreichen, wird Mark Carney, Governor der Bank of England in der NZZ zitiert; aber über Facebook könne man mit 30 Millionen Usern kommunizieren. „Alles dreht sich um das Wort“, an den Bond-Märkten gehe es momentan mehr um Worte als um Zahlen, stellte die NZZ in ihrer vorgestrigen Printausgabe fest.
Wie weit allerdings die prosperierende Entwicklung der vergangenen Jahre tatsächlich auf die verbale Geldpolitik zurückzuführen ist, ist umstritten. „Geldpolitischer Aktivismus ist nicht neu. Aber bisher hat er sich noch nie ausbezahlt“, schreibt Kurt Schiltknecht, ehemaliger Chefökonom der Schweizer Nationalbank (SNB), Anfang Jahr in der „Weltwoche“. Der mediale Rummel um die Geldpolitik sei neueren Datums und nicht zwangsläufig Ausdruck einer besseren Geldpolitik. „Von der Beachtung in den Medien geblendet“, so Schiltknecht, „überschätzen sich die Notenbankexponenten, wenn sie glauben, mit ihren Aussagen die Erwartungen der Wirtschaft steuern zu können.“ Auch die zwei SNB-Ökonomen Thomas Lustenberger und Enzo Rossi warnen in einer Studie davor, von Transparenz und Kommunikation der Zentralbank zu viel erwarten zu wollen. Sie seien kein allgemeingültiges Instrument zur Verbesserung der Finanz- und Wirtschaftsprognosen. Häufigere und unkoordinierte Kommunikation erhöhe das Kakofonie-Risiko. Und eine Zentralbank, die so spreche, riskiere, die Stimme ganz zu verlieren.
Veränderungen herbeiführen kann man umso effektiver, je konkretere Aussagen man macht. Je vager die Worte bleiben, desto weniger Einfluss üben sie aus, desto weniger vermögen sie zu steuern. Unter dem Zwang zu konkreten Aussagen legt man sich aber auch Fesseln an. Das birgt die Gefahr, dass zu lange an einem eingeschlagenen Kurs festgehalten wird, um aus Reputationsgründen den geweckten Erwartungen gerecht zu werden. Wenn dann schliesslich eine Kursänderung doch unumgänglich wird, wird man wieder mehr an Taten als an Worten gemessen.
Auf dieser Gratwanderung entfalten Worte die beabsichtigte Wirkung nur, wenn die Kommunikation verständlich, glaubwürdig und wohldosiert ist und zum geeigneten Zeitpunkt erfolgt. Dann hat sie aber durchaus die Kraft, die Welt zu verändern.